Der folgende Denkanstoß von einem Nachbarn hat mich auf die Frage in der Überschrift gebracht:

„Ich habe eine Herzenssache, die nah an Deinem Thema dran ist! Die Situation im Lehen und Süden wird immer schlimmer, was den Verkehr betrifft. Es gibt heute pro Kopf mehr als doppelt so viele Autos in diesen Vierteln als 1990.  Das ist die wichtigste Botschaft, die mir am Herzen liegt. Die Stehzeuge machen das Stadtbild futsch und nehmen den Rädern und Fußgängern den Platz.  Von daher möchte  ich meine Energie zur Verfügung stellen für  „Weniger Autos“.  Davon würde der Süden profitieren. Und das Lehen!  Wir müssen erreichen, dass es in der Liststraße einen Stadtmobilparkplatz gibt und Menschen ihre Autos verkaufen. Das funktioniert!  In der Neuen Weinsteige 18 und 20 haben in den letzten vier Jahren vier Familien Ihre Autos ganz und gar verkauft. Weil Stadtmobile vor der Türe steht. Das ist mein Ziel!  

FRANK ULMER, NEUE WEINSTEIGE 18

Soweit der persönliche Eindruck meines Nachbarn. Aber was ist da wirklich dran? Ich habe mich mal schlau gemacht – unabhängig von einzelnen Anbietern und Systemen.

In den letzten Jahren haben zahlreiche Studien in deutschen Städten untersucht, ob und wie viel Parkraum sich einsparen lässt, wenn Bewohner eines Viertels guten und nahen Zugriff auf Sharing-Autos haben. Der Bundesverband Carsharing hat gerade erst mehrere Studien zu diesem Thema ausgewertet und die Zusammenfassung im aktuellen Factsheets Verkehrsentlastung durch Carsharing veröffentlicht.

Die Ergebnisse in Kürze:

  • Carsharing reduziert die Zahl der PKW und der benötigten Stellplätze vor allem in Innenstadtquartieren.
  • Je nach Untersuchungsgebiet in verschiedenen Studien der letzten Jahre ersetzte ein stationsbasiertes Carsharing-Auto (Modell Stadtmobil oder ähnliche) mindestens 8 und bis zu 20 Privat-PKW und deren Parkplätze.
  • Das so genannte Freefloating Carsharing (Modell Car2Go / ShareNow) hat dagegen kaum bis teils sogar negative Auswirkungen auf die Parkplatz-Bilanz.
  • Carsharing verändert das Mobilitätsverhalten. CarSharing-Nutzer*innen verteilen ihre Wege im der Zeit neu auf verschiedene Verkehrsmittel. Davon profitieren vor allem Fahrrad und ÖPNV – insbesondere dann, wenn Carsharing-Nutzer einen privaten PKW abschaffen (was nicht bedeuten muss alle)
  • Die Verfügbarkeit stationsbasierter Carsharing-Angebote bringt viele Nutzer dazu, ihre Autos abzustoßen oder keinen Ersatz mehr fürs kaputte Auto anzuschaffen.
Ein Carsharing-Auto ersetzt in der Stadt bis zu 20 Privat-PKW (Grafik: bcs)

Wie können wir die Studie verstehen?

Klar, der Bundesverband Carsharing ist nicht neutral, sondern die Interessenvertretung dieser Branche. Lest die Ergebnisse deshalb kritisch und hinterfragt die Schlussfolgerungen. In den Studien wurden jeweils aktive Nutzer von Carsharing befragt, wie sich ihr Mobilitätsverhalten geändert hat, ob bzw. wie viele Autos sie früher besaßen und wie viele sie heute noch besitzen. Das sind ziemlich unbestechliche Aussagen, die in dieser Untersuchung in mehreren Städten aus dem Jahr 2016 noch detaillierter aufgeführt sind.

Man kann es ungefähr so zusammenfassen: Carsharing verwandelt viele individuell besessene Autos, die die meiste Zeit herumstehen, in weniger Fahrzeuge, die deutlich mehr unterwegs sind. Insofern ist Franks Bild „Stehzeuge in Fahrzeuge umwandeln“ durchaus korrekt. Man könnte noch weiter gehen: Autofahrende werden dadurch zu mobilen Menschen. Sie sitzen weniger in Autos, sondern bewegen sich mal mit dem Fahrrad, mal mit dem Auto und mal mit dem ÖPNV – was eben gerade am Besten zum Mobilitätsbedarf passt.

Wie ist das bei uns?

Derzeit bietet der Anbieter Stadtmobil in direkter Umgebung des Lehenviertels neun Fahrzeuge an, die rege genutzt werden. Sie stehen allesamt auf privaten Stellplätzen.

Carsharing Lehenviertel
Drei Standorte, neun Autos: Carsharing ist in und um das Lehenviertel gut vertreten. Besser geht natürlich immer. (Screenshot: Privat)
  • 4 Opel Astra Kombi in der Römerstraße oberhalb der Heusteigschule
  • 2 Opel Corsa an der Markuskirche
  • Je ein Opel Corsa, Hochdach-Kombi und Toyota Auris Kombi Hybrid an der Neuen Weinsteige 18.
  • Zwei Fahrzeuge (Toyota Aygo und Renault Kangoo) beim Theater Rampe sind derzeit nicht verfügbar, da dort gebaut wird.

Das rechnerische Ergebnis dieses Angebots im öffentlichen Raum kann sich sehen lassen: Wenn wir für unsere Gegend eine Quote von 10 eingesparten Autos pro Carsharing-Fahrzeug annehmen, dann spart jedes Carsharing-Auto knapp 45 Meter Parkraum am Straßenrand (5 Meter pro Parkplatz abzüglich des Stellplatzes für das Carsharing-Fahrzeug selbst). Selbst wenn wir davon ausgehen, dass wir fast die Hälfte dieses Straßenraumes wieder an den Autoverkehr herschenken, zum Beispiel um die Parkplatznot zu mildern, bleiben noch immer 25 Meter Straßenrand pro Carsharing-Fahrzeug in unserem Viertel. Damit bekämen wir allein mit den bestehenden Crasharing-Autos rund 225 Meter Straßenrand frei für eine andere Nutzung.

Ohne irgendwem einen Parkplatz weg zu nehmen,

Allerdings: Bisher ist nach meiner Kenntnis in den letzten Jahren kein einziger Parkplatz im Lehenviertel dauerhaft abhanden gekommen. Allenfalls die coronabedinge Außengastro am Lehen – und vielleicht demnächst am Café List – kosten uns im Viertel ein paar wenige Stellplätze.

Lageplan-Skizze von Klein List

Das Kerngebiet auf der Skizze von Klein List zwischen Strohberg und Römerstraße ist etwa 50 Meter lang. Von Straßenecke zu Straßenecke sind es ca. 100 Meter, die laut Planung nicht völlig autofrei werden. In den bisherigen Planungen von Heinz Lermann „kostet“ Klein List 13 Parkplätze. Also könnten wir allein mit der Einsparbilanz durch das bestehende Carsharing neben Klein List noch einige weitere grüne Inseln im Lehenviertel schaffen.

Carsharing plus Fahrrad ist In

Viele Leute, mit denen ich in den letzten Monaten und Jahren rund ums Lehenviertel gesprochen habe und die ebenfalls mehr Platz für Begrünung und mehr Aufenthaltsräume in den Straßen wollen, nutzen heute schon Carsharing.

Nicht alle, aber viele davon haben kein eigenes Auto. Einige haben ihr Auto in den letzten Jahren verkauft oder ihr Altes nicht mehr durch einen Neuwagen ersetzt.

Viele Carsharing-Familien haben gute Fahrräder für die alltäglichen Wege in der Stadt. Auch die Lastenradförderung der Stadt Stuttgart bringt Familien dazu, zumindest auf eines ihrer Autos zu verzichten. Sie bringen ihre Kinder mit dem Lastenrad zur Kita, fahren zum Einkaufen. Wege im Alltag sind per Lastenrad oder Fahrradanhänger auch mit Gepäck und Passagieren zu machen. Gerade im Lehenviertel prägen die Pedelec-Dreiräder und Long-Johns immer mehr das Straßenbild. Höchste Zeit, den Platz zu nutzen, den wir uns auch damit im ruhenden Verkehr eingespart haben.

Mehr Anreize notwendig?

Einige Nachbarinnen und Nachbarn sagen, dass sie die ewige Suche nach Parkplätzen am Abend so nervt, dass sie ernsthaft überlegen, es mal ohne eigenes Auto zu versuchen. Nur fehlt es teils noch an alltagstauglichen Alternativen. Eine Familie aus dem Bereich Römer-/Zellerstraße berichtete, dass es zu beschwerlich ist, mit Kind und Kegel immer bis unterhalb der Markuskirche zu laufen, um ein Auto zu holen, wenn es gebraucht wird. Das ist sicher eine subjektive Meinung, doch tatsächlich gibt es bis heute keine Carsharing-Stellplätze im zentralen Lehenviertel. Bedarf dafür wäre ganz bestimmt vorhanden.

Immerhin gibt es schon heute mitten im Viertel eine Carsharing-Alternative zu Stadtmobil. Claus-Uwe Dieterle betreibt im Strohberg 38 die „Quartiergarage Lehen“, in der er über die Plattform Snappcar und Getaround mehrere Elektroautos stunden-, tageweise oder auch längerfristig für faire Preise zur Verfügung stellt.

Webseite der Quartiergarage Lehen.

Herr Dieterle berichtet mir, dass seine Autos – soweit ich weiß zwei Elektro-Smart, ein elektrischer Renault Kangoo und ein Opel Ampera – recht gut gebucht werden, allerdings kaum von Menschen aus der direkten Umgebung. Hier sind also auch noch Potentiale für Sharing-Nutzer – und Raum-Gewinne im Viertel.

Sind Konflikte notwendig?

Klar: Kein Wandel funktioniert ohne Bedenken und Gegenwind. Doch wer sich Sorgen um „seinen“ Parkplatz für das Auto macht, das er unbedingt braucht, der sollte zumindest einen Moment innehalten. Und bedenken: Wenn Mobilitätsformen wie Carsharing oder Lastenräder tatsächlich privat genutzte PKW zählbar einsparen (und das tun sie, siehe oben), dann ist das auch für diejenigen eine gute Nachricht, wei weiter aufs Auto angewiesen sind. Bislang wurde die Carsharing- oder Fahrrad-Umsteiger-Bilanz gar nicht in die Verkehrs- und Parkplatzplanung mit einbezogen. Künftig muss dies im Rahmen der Verkehrswende passieren. Doch vermutlich werden – wie in unserem Rechenbeispiel oben – mehr Parkplätze durch verändertes Mobilitätsverhalten eingespart, als man tatsächlich anderweitig nutzt.

Vom Aufenthaltsraum auf der Straße haben alle etwas

Damit profitieren gerade Auto-Nutzer doppelt – von immer weniger Parkdruck und durch einen attraktiveren öffentlichen Raum, der Ihnen auch dann zur Verfügung steht, wenn sie selbst nichts aktiv dafür tun.

Um diese Entwicklung zu fördern, würden wir gern nach und nach weitere Carsharing-Stellplätze im Lehenviertel installieren. Mit der Novelle der Straßenverkehrsverordnung 2020 wurde die Einrichtung von Carsharing-Plätzen im öffentlichen Raum entscheidend vereinfacht. Das sollten wir nutzen und zwischen Filder-, Zellerstraße und Immenhoferstraße nach und nach weitere Carsharing-Stellplätze einrichten. Am spannendsten wäre das im Rahmen eines Pilotversuchs: Für jeweils fünf bis zehn Haushalte, die eine Zeitlang auf ihr Auto verzichten, ihren Parkausweis abgeben und den Wagen außerhalb der Stadt parken, wird ein Carsharing-Fahrzeug besonders wohnortnah aufgestellt. Dafür wird ein Teil der frei werdenden Parkplätze begrünt und ein anderer Teil als zusätzlicher Parkraum deklariert.

Unsere Mitstreiterin Dorothee Egger hat diese Idee in ein Konzept gegossen.

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Ja richtig! Ich bin auch nicht ganz neutral. Seit 3,5 Jahren fahren wir Fahrrad, Lastenrad und Stadtmobil. Als Familie im Alltag, im Urlaub sowie als Selbstständiger mit regelmäßigen Kundenterminen. Hier meine Erfahrungen zum Nachlesen.