Dieser Tage werden am Anfang der Liststraße zwei Stadtmobil-Stellplätze eingerichtet. Sie sind schon seit einigen Tagen ausgewiesen. Die Schilder sind angebracht. Bodenmarkierungen zeigen, dass hier Parkraum für Carsharing-Autos ist. Neben diesen werden gerade noch zwei weitere solcher Stellplätze am Falbenhennenplatz unterhalb des Kiosks an der Olgastraße eingerichtet.

Wenn es nach dem Anbieter geht, dann kommen in nächster Zeit noch einige weitere Carsharing-Stellplätze ins Lehenviertel. Stadtmobil sieht hier eine große Nachfrage und zu wenige Autos. Das kann ich als Kunde bestätigen. In unserer Gegend wird es in Stoßzeiten am Wochenende oder an Feiertagen immer schwieriger, halbwegs spontan ein Stadtmobil zu ergattern. Auch einige Unterstützer:innen der Initiative haben über unsere Umfrage schon mehr Carsharing-Angebote gefordert.

…wünsche ich mir mehr Stellplätze für stadtmobil – an strategisch gut sichtbaren Stellen. Damit mehr Menschen von dieser Alternative erfahren. Als langjähriges Mitglied weiß ich, wie schwer es ist, für die Autos Stellplätze in Süd zu finden. (Aktuelle Stellplätze Zacke-Bahnhof, Markus-Kirche/Römer-Straße)

Franziska, Tulpenstraße

Seit wann stehen Carsharing-Autos im öffentlichen Raum?

Es ist tatsächlich noch recht neu, dass Autos von z.B. Stadtmobil oder Flinkster – dem Mitbewerber von der DB – auf öffentlichen Parkplätzen an der Straße parken dürfen. Bislang mussten sie alle ihre Stellplätze auf privaten Parkplätzen anmieten. Die ersten öffentlichen Stellplätze kamen Ende 2019, mittlerweile sind sie nach einem entsprechenden Gemeinderatsbeschluss in Stuttgart grundsätzlich möglich.

Die Grundlagen für diese Entscheidung steht im Carsharing-Konzept der Stadt Stuttgart. Darin ist u.a. festgehalten, dass Carsharing Platz in der Stadt schafft: Wenn mehr Menschen Carsharing nutzen, dann haben weniger Menschen ein eigenes Auto, wodurch weniger individuell genutzte Autos auf der Straße parken. Das tun sie nämlich im Durchschnitt 23,5 Stunden pro Tag. Soweit die Theorie.

Schafft Carsharing denn tatsächlich Platz in Stuttgart?

Dazu habe ich bei Stadtmobil nach den Kunden- und Fahrzeugzahlen für die Stuttgarter Innenstadt zwischen 2011 und 2020 gefragt. Der Anbieter hat mit diese Zahlen freundlicherweise gegeben – natürlich vollständig anonym. Daraus und mit weiteren Erkenntnisse rund um Carsharing habe ich für die Innenstadt und insbesondere fürs Lehenviertel die wichtigsten Entwicklungen berechnet. 

  1. Im Jahr 2020 waren in der Stuttgarter Innenstadt (Mitte, Nord, Ost, West und Süd) 4389 Menschen bei Stadtmobil angemeldet, 2011 waren es noch 1622. Das ist ein Wachstum um gut 170 Prozent. 
  2. In der Stuttgarter Innenstadt standen 2020 durchschnittlich 188 Stadtmobil-Fahrzeuge (2011: 98, Wachstum: 92 %).
  3. Wie viele Menschen teilen sich also beim Carsharing jeweils ein Auto? Dafür gehe ich mal davon aus, dass Kund:innen nicht nur im eigenen Bezirk Autos nutzen, sondern auch in angrenzenden Gegenden. Deshalb habe ich zum Fahrzeugbestand 10% addiert. Umgekehrt ist das natürlich auch der Fall, aber wir rechnen konservativ. So kommen in der Stuttgarter Innenstadt auf ein Stadtmobil 21,2 Kund:innen
  4. Carsharing-Haushalte schaffen im Schnitt zu 60 bis 70 Prozent innerhalb eines Jahres vor Anmeldung bis ein Jahr danach ein Auto pro Haushalt ab. Viele tun das schon vor der Anmeldung, manche z.B. einen Zweitwagen. Dazu gibt es Studien wie etwa diese Umfrage unter Nutzer:innen vom Bundesverband Carsharing (siehe Grafik unten). Nehmen wir konservativ 60% an, dann sind das seit 2011 ganze 1660 Autos weniger in der Stuttgarter Innenstadt. Davon ziehen wir natürlich den Platzbedarf für die Carsharing-Autos ab – auch wenn diese bislang ausschließlich auf privaten Grundstücken stehen.

Ergebnis: Allein Stadtmobil spart seit 2011 bilanziell 1472 Parkplätze für Privat Kfz im Stuttgarter Talkessel.

In einer Umfrage des Bundesverband Carsharing gaben 62 % der Nutzer:innen an, dass sie seit einem Jahr vor der Anmeldung zum Carsharing mindestens ein Auto abgeschafft haben. (Quelle: bcs-Studie)

Wie schaut das in und um das Lehenviertel aus?

Das „Lehen“ umfasst in Stuttgart-Süd und einem kleinen Teil von Mitte den PLZ Bereich 70180, der in den Kundenzahlen von Stadtmobil nachvollziehbar ist. Schauen wir hier einmal auf die aktuellen Zahlen.

  1. 2020 waren im Bereich 70180 im Schnitt 486 Kunden bei Stadtmobil angemeldet. 2011 waren es noch 151.
  2. Im PLZ-Gebiet 70180 standen 2020 13 Stadtmobil-Fahrzeuge
  3. Auf ein Stadtmobil kommen hier nach der Berechnung oben (Kundenzahl / (Fahrzeugzahl + 10%) ) beinahe 34 Nutzer:innen.
  4. Nach der konservativen Rechnung für den Bestand eigener Autos bei Carsharing-Kunden – 60% der Neukunden reduzieren ihren Fuhrpark um mindestens ein Auto – wurden so im PLZ-Gebiet 70180 seit 2011 ca. 201 Parkplätze eingespart

Wie hat sich der KfZ-Bestand tatsächlich entwickelt?

Die Zahl der privat und gewerblich zugelassenen PKW ist in Stuttgart-Süd in den letzten Jahren gesunken. Von 2018 (16.517) ging sie im Jahr 2019 (16450) um immerhin 67 Fahrzeuge zurück. In der gesamten Stuttgarter Innenstadt (Stuttgart-Mitte, -Nord, -Ost, -West und -Süd) sank der Bestand 2018/19 um insgesamt 344 PKW. Für das PLZ-Gebiet 70180 allein konnte ich bislang keine Zulassungsstatistik finden. Auch für 2020 habe ich im Statistik-Portal der Stadt Stuttgart noch keine Zahlen für einzelne Stadtbezirke gefunden. Doch die folgende Grafik zeigt die Entwicklung bis Juni 2020 in ganz Stuttgart: Sicher begleitete von einem gewissen Corona-Effekt sank die Zahl der Autos von Juni 2019 bis Juni 2020 um mehr als 4000.

Quelle: Stadt Stuttgart

Doch gerade hier in den innenstädtischen Wohnbezirken wie im Lehenviertel ist die Entwicklung recht klar abzusehen: Die Zahl der individuell genutzten PKW sinkt.

Schafft Carsharing allein Platz in der Stadt?

Das dürfte ähnlich schwer zu sagen sein wie die Frage, ob Masken allein vor Coronainfektionen schützen. Ich denke, alle alternativen Mobilitätsangebote gemeinsam schaffen Platz. Und davon haben wir inzwischen eine ganze Menge. Die Stadt Stuttgart hat zum Beispiel im Bereich 70180 in den letzten drei Jahren über 70 Lastenräder für Familien gefördert (Stand Dezember 2020). Von den geförderten Familien wollen laut Aussage des zuständigen Mitarbeiters der Stabsstelle Nachhaltige Mobilität ca. 60% den Umweltbonus für Autoverzicht einlösen: Sie bekommen 500 Euro mehr Förderung, wenn sie innerhalb von zwei Jahren nach der Anschaffung des Lastenrads ein Auto abschaffen oder gar keines im Haushalt haben. Diese Leute tauchen meiner Meinung nach aber zum Großteil auch in der Kundenstatistik der Carsharinganbieter auf, da diese beiden Mobilitätsformen sich für kurze und längere Strecken sehr gut ergänzen.

Auch der dicht getaktete öffentliche Nahverkehr spielt eine Rolle. Gerade das Lehenviertel mit der U-Bahn und mehreren Buslinien am Marienplatz, dem 43er im 10-Minutentakt mitten im Viertel und der Zacke als stylische Verbindung nach Degerloch ist großartig angebunden. Vielleicht spielen sogar die unzähligen Sharing-Tretroller mit Elektroantrieb eine Rolle, die unsere Gehwege ansonsten gnadenlos zustellen. Oder die Stella-Roller der Stadtwerke. Oder ShareNow als spontanes One-Way-Sharingangebot auf dem Weg zur Party (wenn sie denn mal wieder stattfindet) – und das Taxi für den angeduselten Rückweg. Oder der Pedelec-Boom. All diese Faktoren sind in der Berechnung oben nicht mit drin.

Spannend aber die Aussage von Stadtmobil-Vertriebsleiter Matthias Hartlieb. Er sagt „Um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, müssen wir bei gleicher Zahl an Fahrzeugen immer mehr Kunden gewinnen. Denn mit der Zeit nutzen unsere Neukunden das Angebot von Stadtmobil tendenziell immer weniger.“ Das kann ich als Kunde seit über drei Jahren voll bestätigen. Am Anfang nutzt man oft Carsharing-Autos. Dann fährt man mehr mit dem Fahrrad, kauft ein Lastenrad, kauft mehr in Fußentfernung ein und fährt z.B. lange Strecken häufiger mit dem Zug, was für viele Reisen auch billiger wird, wenn das Auto mit all seinen Fixkosten nicht automatisch vor der Tür parkt.

Was bedeutet all das für Klein List und das Lehenviertel?

Erstens: Wir sollten als Nachbarschaft den Mut haben, auf einige Parkplätze für leere Autos zu verzichten, um mehr Platz für das volle Leben, Bewegungs- und Aufenthaltsräume mit Abstand zu schaffen. Für Menschen eben, gerade im Zentrum unseres schönen Viertels. Wir lösen damit keine Revolution aus, sondern bilden eine Entwicklung ab, die seit Jahren nachvollziehbar in Gange ist.

Zweitens: Carsharing-Angebote sind hier im Viertel – trotz wachsender Kundenzahlen – tatsächlich Mangelware. Ein Blick auf die Buchungskarte von Stadtmobil zeigt, dass es rings um das zentrale Lehenviertel zwar eine Reihe Stadtmobile gibt, nicht aber mitten drinnen. Übrigens auc hnicht in der Halbhöhe Richtung Haigst. Hier im Viertel ist zumindest eine erste Abhilfe unterwegs (siehe oben), aber da ist noch viel Luft nach oben, um noch mehr Raum verfügbar machen.

Demnächst mehr: Bisher ist das zentrale Lehenviertel noch ein weißer Fleck auf der Fahrzeug-Karte von Stadtmobil. Die neu eingerichteten Stellplätze an der Liststraße 1 fehlen hier noch. (Privater Screenshot)

Drittens: Carsharing bietet vor allem all denjenigen eine gute Alternative, die nicht jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit pendeln müssen, aber immer wieder auf ein Auto angewiesen sind. Wer sich auf einen Versuch einlässt, findet vermutlich recht bald diese praktischen Vorteile:

  • Nie mehr Parkplatz suchen und in der Not an der Ecke parken – inklusive Knöllchen und ärgerlicher Nachbarn
  • Nie mehr Kundendienst verpassen – und bezahlen müssen
  • Nie mehr Winterreifen aufziehen müssen
  • Nie mehr einen Stell- oder Garagenplatz mieten müssen

Was können wir tun?

Mit der Initiative „Ideen fürs Lehen“ wollen wir darauf hinarbeiten, dass bei einer Verkehrsberuhigung und Begrünung der Liststraße im Lehenviertel auch neue Carsharing-Stellplätze im öffentlichen Parkraum eingerichtet werden. Dazu regen wir an, die Entwicklung der Nutzung über einen längeren Zeitraum zu untersuchen und parallel dazu den öffentlichen Raum entsprechend der Erkenntnisse zu gestalten. Zum Beispiel so: 

  • Nach den Berechnungen oben ersetzt im Lehenviertel und Umgebung bisher jedes Carsharing-Auto rund 20 individuell genutzte PKW (34 Kund:innen pro Stadtmobil, davon schaffen 60% ein Auto ab)
  • Ein neues Carsharing-Auto setzen wir – konservativ gerechnet – zunächst mal als Ersatz für 15 Autos an. Über den Platz für diese Autos sollten wir künftig verfügen. Zum Beispiel so:
    • Einen Parkplatz beansprucht das Carsharing-Auto selbst 
    • Weitere 9 Stellplätze kommen der Allgemeinheit zugute, z.B. für Bäume, Sitzflächen, Außengastro, Fahrradparkplätze und andere gemeinschaftliche Nutzungen.  
    • 5 Stellplätze bleiben Auto-Parkplätze und helfen so, den Parkdruck zu reduzieren 

Mit dieser Beispiel-Rechnung bekommen wir allein mit zwei Carsharing-Standorten im Umfeld von Klein List mehr Raum, als wir für die geplante Begegnungszone benötigen. Und mehr Parkplätze für alle. Allein diese Erkenntnis und deren Umsetzung wäre ein starker Anfang. 

So könnte man im „Reallabor Lehenviertel“ live beobachten und nachvollziehen, wie Raum für alle Menschen entsteht, weil immer mehr Menschen ihre Mobilität neu denken.

Die beiden neuen Carsharing-Stellplätze an der Liststraße 1 dürften bilanziell ausreichen, um Klein List umzusetzen, ohne zusätzlichen Parkdruck zu erzeugen. Es dürfen aber auch nicht mehr Carsharing-Angebote werden. (Foto: R. Otter)

Müssen jetzt alle aufs eigene Auto verzichten?

Selbstverständlich nicht. Carsharing ist nichts für Menschen, die täglich mit dem Auto zur Arbeit pendeln müssen, weil ihr Job eben per ÖPNV nicht gut zu erreichen ist. Es taugt auch nicht für die IT-Beraterin im Außendienst (obwohl die dank Gigabit-Internet und Systemen wie Teamviewer auch immer häufiger aus dem Homeoffice arbeiten kann). Auch nicht für Handwerker mit schwerem Gerät.

Es geht ja gerade nicht darum, alle Autos aus dem Viertel zu verbannen. Sondern um die Idee, mit sinnvollen Alternativen wertvollen Raum für alle zu schaffen und den auch sichtbar zu machen.